Text: Katalina Farkas

Der Besuch hat seine Spuren hinterlassen. Keine sichtbaren, eher einen schalen Nachgeschmack, einen Schatten, der noch lange an den Gedanken klebt wie ein Kaugummi unterm Schuh. Er stört nicht, aber er ist da, meldet sich bei jedem Schritt, will beachtet und nicht länger ignoriert werden. Lenkt die Gedanken immer wieder auf die eine Frage. Was wollten wir da? Ja, was wollten wir eigentlich da, an diesem Platz, an diesem Nicht-Ort, an dem Hütten stehen aber keine Zuhause, houses but no homes?

Wir sind zurück bei Irenke, und wir diskutieren hitzig. Keine zehn Minuten sind vergangen, dass wir aus staubigen Taxis ausgestiegen sind, dem Polizisten noch einmal zugewunken und das alte Szeklertor hinter uns geschlossen haben, wieder eingetaucht sind in die Idylle der kleinen Pension. Doch der grüne Rasen, der hohe Baum und die in Würde alternde Scheune haben keine Chance gegen die Bilder in unserem Kopf. Den Staub, der noch in den Kleidern hängt, die Erinnerung an die stechenden Gerüche. Im Hintergrund füllt Evi ein Planschbecken mit Wasser und Desinfektionsmittel, sie will unsere Schuhe waschen. Sicher ist sicher. Was wollten wir da?

Das versuchen wir herauszufinden. Lautstark. Wir wollten ein Dorf besuchen, in dem Roma leben. Gemeinsam mit Tobias Walzok, einem Deutschen, der dort einmal im Jahr ein kirchliches Ferienlager veranstaltet mit Jugendlichen aus Sachsen. Eine Woche campen die Jugendlichen dann vor den Toren von Nagygalambfalva, spielen gemeinsam mit den Roma Theater, singen, kochen und backen, eine Woche erkunden sie das Land (mehr dazu hier). Die Roma kennen ihn, das Camp – Rüstzeit genannt – findet bereits seit sieben Jahren statt. Tobias sollte unsere Brücke sein, über ihn wollten wir die Roma und Romnija kennenlernen.

Tobias war nicht da.

Es muss einem Übersetzungsfehler geschuldet gewesen sein, oder der spontanen Planung, aber an dem Tag, an dem wir das Dorf besuchen wollten, befand der Jugendwart sich mit seiner Gruppe irgendwo im rumänischen Hinterland, weit weg von Nagygalambfalva. Wahrscheinlich hatten wir ihn nicht richtig informiert, er wusste vielleicht nicht einmal von unserem Besuch in Nagygalambfalva. Stattdessen wurden wir von einem trägen Polizisten eskortiert, der sich zwar rauchend im Hintergrund hielt und nur hier und da ein paar Worte wechselte, dessen Präsenz und Dienstwaffe dem Besuch aber auch eine drückende Bedrohlichkeit verliehen, gerade so als würden die Dorfbewohner sich auf uns stürzen, würde er wegsehen.

Auf jeden Fall ist Tobias nicht da, als unsere Taxis den Staub der Schotterwegs aufwirbeln, als wir auf die Siedlung zufahren. Sie liegt außerhalb von Nagygalambfalva, fernab der getünchten Häuser, der Blumen in den Vorgärten und den asphaltierten Straßen. Sie liegt weit draußen, dort, wo man sie vom Ort aus nicht sieht. Dort, wo man schnell vergessen kann, dass sie existiert. Die Ansammlung eine Siedlung zu nennen, ist fast schon zu viel, es sind versprengte Hütten, Wände aus aufgesprungenem Lehm, die Löcher in den vergilbten Ziegeldächern mit Plastiktüten geflickt. Es könnte ein Filmset sein, so unwirklich scheint der Ort, mehr Kulisse als Wirklichkeit.

Von weitem wirkt das Dorf wie verlassen, aber das Schnurren der Motoren lockt die Menschen ans Licht. Immer mehr Menschen kommen aus ihren Hütten hervor, blinzeln in grelle Sonne und uns entgegen. Als die Autos anhalten, müssen es Dutzende sein. Wir starren. Sie starren. Die Sonne brennt.

Zum Glück ist Evi dabei, die Unermüdliche, natürlich hat sie auch wieder ihren Sohn Imike dabei, natürlich geht sie voran, als wäre sie andauernd hier, plaudert, grüßt, nickt den Menschen zu. Langsam kommt Bewegung in die Sache. Wir gehen erst einmal hinterher, unsicher, nicht wissend, wohin wir zuerst schauen sollen oder wohin lieber gar nicht. Auf den Boden lieber nicht. Scherben liegen dort im Staub, Papierfetzen, Essenreste. Verdautes. Die meisten Kinder sind nackt, warum auch nicht, es ist unerträglich heiß, vielleicht fehlen aber auch einfach die Kleider, wir wissen es nicht. Sie lachen uns zu, verstohlen, aber aufrichtig, verstecken ihre kleinen Gesichter hinter dreckigen Fingern, spielen das Spiel, das alle kleinen Kinder spielen.

Ein paar Gespräche entwickeln sich, langsam, abtastend, stockend, schließlich sind heute nur zwei Erwachsene dabei, die Ungarisch sprechen. Mehr als Winken und Lächeln ist für den Rest nicht drin. Die Sonne flimmert am Himmel, wir schwitzen, es ist heiß. Den Roma scheint die Hitze nichts auszumachen. Sie sind wild, schön und stolz. Die Haare sind verfilzt, die Kleider voller Flecken, aber die Augen blitzen. Ein paar Kinder fragen nach unseren Namen, singen von Zahlen und dem Alphabet, auch ein paar Sätze auf Deutsch können sie aufsagen. Sie haben sie bei Tobias Walzok und seiner Jugendgruppe gelernt. Die älteren Mädchen necken uns, singen Lieder, deren Inhalt Evi nicht übersetzen will. Mädchen sind sie eigentlich schon lange nicht mehr, wenn überhaupt, dann nur noch auf dem Papier. 14 sind sie, 15 und 17, wenn man ihnen glauben will. Aber ihre Körper gleichen schon längst denen von Frauen, nicht zuletzt deshalb, weil auch sie schon Kinder zur Welt gebracht haben. Am Rand von Nagygalambfalva läuft die Zeit anders. Ängstlich sehen sie nicht aus, ganz im Gegenteil, sie wissen, sich zu behaupten. Wohl auch, weil Alkohol und Gewalt regelmäßig zu Gast sind in Nagygalambfalva.

Die Mädchenmütter fragen, ob wir Zigaretten haben, aber als wir verneinen, zucken sie nur mit den Schultern und lachen. Ob wir hineinkommen wollen in eine der Hütten? Hier wohne eine Familie, sieben, acht, neun Menschen in zwei Räumen, die eher einem Stall gleichen, vielleicht sind es auch mehr. Drei durchgelegene Betten. Auf den pinken Decken Blumenmuster, auf den Schränken Jägermeister.

Draußen haben die Romakinder ihre Scheu abgelegt, kommen näher, bilden einen Kreis um zwei der Münchner Kinder, piesacken sie. Den beiden Münchnern ist die Aufmerksamkeit sichtbar unangenehmen, sie wollen weg, zurück zum Taxi, verständlich. Andere stellen Fragen, aber die Übersetzung läuft holprig und manchmal nur über drei Ecken.

Auch unser Taxifahrer schüttelt nur den Kopf, als wir den Ort eine Stunde später wieder verlassen. Piszkos, zischt er verächtlich, als das Dorf im Rückspiegel verschwindet: dreckig.

Und jetzt sitzen wir hier in Irenkes Garten, essen Eis und trinken Limo, und diskutieren, streiten. Was wollten wir da? Warum sind wir in dieses Dorf gefahren, ohne Berührungspunkte, ohne zu wissen, wie es wird, einfach so? Weil es zu Rumänien gehört? Weil es ein drängendes politisches Thema ist? Weil wir den Kindern Armut zeigen wollten, ohne Rücksicht auf Verluste? Weil wir einfach mal gucken wollten, wie andere Menschen so leben? Haben wir Vorurteile geschürt? Uns am Elend anderer ergötzt?

Und was bedeutet das eigentlich, Elend? Legen wir hier nicht unsere Maßstäbe an? Können wir uns ein Urteil überhaupt erlauben? Wie viel Ablehnung und Hass Roma in Rumänien – und anderen Teilen der Welt – erfahren, wissen wir, aber steht es uns in diesem Moment zu, darüber zu urteilen, ob die 14-jährige Mutter glücklich ist? Am Ende bleiben wir mit vielen Fragen zurück. Eine Antwort haben wir nicht gefunden. Wir hätten uns besser vorbereiten müssen, soviel ist klar. Hätten uns mit Tobias absprechen sollen, der die Menschen kennt, sich auf gewohntem Terrain bewegt hätte, Ungarisch spricht.

Und was haben die Kinder überhaupt mitgenommen? Haben wir sie erschreckt? Haben sie vielleicht jetzt mehr Angst als vorher, haben sie Vorurteile entwickelt? Im Hintergrund wäscht Evi unsere Schuhe ab, nur zur Sicherheit, wie sie beteuert, aber wie verstehen das die Kinder? Dass man sich nach einem Besuch bei den Roma selbst die Schuhe waschen muss, weil sie piszkos sind, dreckig? Nein, von dem Bottich voller Kernseife bekommen die Kinder gar nichts mit, sie planschen eh schon wieder im Pool.  Aber wie werden sie in ein paar Stunden darüber denken?

Das Resümee fällt nüchterner aus als erwartet: Naja, da hätten halt viele Menschen in einem Dorf gelebt, in dem die Häuser sehr klein und dreckig gewesen seien, voll krass, auch, dass viele so gar keine Klamotten angehabt hätten, piepsen die kleinen Kinderstimmen. Und echt voll krass, dass die da gar keine Handys gehabt hätten, nicht mal Tastenhandys oder so, kommt es zögerlich aus einer anderen Ecke. Aber, bemerkt Robinson, wäre ja auch eigentlich ganz cool so ohne Handy, da hätte man ja viel mehr Zeit für andere Sachen, oder?

Jeder hat etwas anderes aus dem Dorf für sich mitgenommen. Viele Eindrücke, viele Bilder. Viele Fragen und kaum Antworten. Was uns Erwachsenen – und vielleicht auch dem ein oder anderen Kind – klargeworden ist: Wir wissen nicht viel, und ein Urteil, und dann noch ein schnelles, können wir uns nicht erlauben. Aber wir können weiter hinsehen, hinterfragen, Hände reichen. Wie Tobias und seine Jugendlichen.