Text: Katalina Farkas
Heute waren es die Münchner, die etwas Neues kennenlernten. Nach Ausflügen mit der Kutsche, einem Besuch im Kletterpark oder einer Fahrt mit dem Kanu – alles Dinge, die für die meisten Bögözer unbezahlbar sind – stand ein Spaziergang durch das Dorf auf dem Programm. Wir wollten den Kindern zeigen, wo ihre Trainingspartner wohnen. Außerdem sollten die Gastgeschenke an einige der ärmeren Dorfbewohner verteilt werden, deren Kinder nicht am Camp teilnehmen konnten.
Bewaffnet mit Spielzeugautos, Frisbees, Wurfspielen, Buntstiften und Kleidung machten wir uns also auf den Weg. Zuerst besuchten wir eine Roma, die mit ihren Kindern in der Straße wohnte, in der auch die Pension liegt. Ihr Haus, von außen rosa und grün getüncht, mit einstmals weißen Spitzengardinen in den Fenstern, vermittelte auf den ersten Blick nicht unbedingt den Eindruck eines Lebens am Existenzminimum. Nachdem Irenke uns vorgestellt hatte, wurden wir von der schmalen, zahnlosen Roma-Frau schüchtern, aber freundlich begrüßt und ins Haus gebeten. Dort änderte der erste Eindruck sich schlagartig. Auf dem staubigen Holzboden der zwei Räume lagen Zigarettenstummel, verschmierte Pfützen und Essensreste, auf dem Herd kochte vor Dreck starrende Wäsche vor sich hin, es roch nach altem Wasser, Müll und Rauch. Auch die Madonnenbilder an den Wänden vermochten es nicht, die Tristesse zu mindern.
Nicht nur die Kinder waren von den Umständen, unter denen die kleine Frau mit ihren acht Kindern auf engstem Raum lebte, überrascht und schockiert. Und dennoch bewegten sie sich unbefangen, schauten sich um, fragten nach. Warum hat eine Frau, die es kaum schafft, ihre acht Kinder zu versorgen, einen Fernseher? Warum raucht sie? Zahlt sie Miete? Warum richtet sie die Wohnung nicht schöner ein? Warum räumt sie die Wohnung nicht auf, kehrt den Dreck nicht nach draußen oder wischt den Boden?
Auch uns als Erwachsene und Betreuer bewegen diese Fragen. Antworten haben wir keine. Nur Ansätze einer Erklärung. Woher die Frau kommt, woher ihre Kinder kommen, was sie in ihrem Leben bereits erlebt haben, darüber können wir nur spekulieren. Aber dass sie Irenke gegen ein geringes Entgelt bei der Gartenarbeit hilft, dass sie ihre älteren Kinder in die Schule schickt, sie dafür herausputzt und ihnen frische Sachen anzieht, lassen uns vermuten, dass sie sich Mühe gibt. Und auch der perplexe Dank, den sie immer wieder vor sich hin murmelte, erschien ehrlich. Sie hatte es nicht darauf angelegt, sich von den Deutschen mit Geschenken überhäufen zu lassen. Auch wenn sie schon von uns gehört hatte – unser Besuch war nicht angekündigt.
Auch bei zwei weiteren Häusern erwartete uns eine ähnliche Situation: ältere Frauen, mager und zäh, die an ihren Zigaretten ziehend auf Dutzende verdreckte Kinder aufpassten, während die Männer bei der Arbeit oder in der Dorfkneipe waren. Großmütter und ältere Geschwister, die auf die kleineren aufpassen, wenn die Eltern, wie heute bei einer Familie, sich im Ausland befinden um dort Geld zu verdienen.
Unsere Kinder wurden durch die Besuche nachdenklich gestimmt. Warum ist ein Land wie Rumänien so arm? Warum ist ein so armes Land, das so anders ist als Deutschland, in der Europäischen Union? Warum schaffen es die Menschen nicht, sich durch Arbeit ein besseres Leben zu ermöglichen? Liegen sie vielleicht auf der faulen Haut? Und darf man solchen Leuten überhaupt helfen? Warum nehmen sie nicht alles, was wir ihnen anbieten, sondern lehnen auch Kleidung ab, die ihnen nicht gefällt? Müssten sie dankbarer sein? Wäre es nicht sinnvoller, nur Leuten zu helfen, die noch ärmer sind, sodass sie sich weder Fernseher noch Radio oder neu aussehende Kleidung leisten können?
Wieder haben wir keine Antwort. Wir können nur vermuten. Und versuchen, zu erklären. Dass es in der EU nicht auf den Reichtum der Bevölkerung ankommt. Dass man nicht immer nur da helfen kann, wo die größte Not herrscht. Dass Armut manchmal auf den ersten Blick unsichtbar ist, und dass sie sich auch in Dingen wie Bildung oder Inklusion, und nicht an einer neuen Jeans oder Ohrringen messen lässt. Aber Antworten, die auch uns zufrieden stellen, haben wir nicht.
Beim Training am Nachmittag mussten diese Fragen jedoch in den Hintergrund gestellt werden. Es ging darum, sich auf den Sport zu konzentrieren. Zum ersten Mal leiteten nicht die Kids, sondern wir Betreuer das Training, um so ein ganz reguläres Training abzuhalten, in dem Deutsche und Rumänen alle Übungen gemeinsam absolvieren. Neben Laufspielen, Korblegern und Passübungen gab es noch eine Wurf-Challenge, an deren Ende die Verlierer einen Liniensprint laufen mussten – ganz so, wie es auch in einem normalen Training geschieht. Und zum Schluss konnten sich auch alle noch in richtigen Spielen gegeneinander messen.
Nach dem Training lernten die Kinder noch etwas mehr über Rumänien – sie besuchten die Zeugnisübergabe ihrer Trainingspartner im Gemeindehaus in Bögöz. In dem kleinen rosafarbenen Haus, das bis auf den letzten Stehplatz mit Schülern, Eltern und Besuchern gefüllt war, gab es nach der Übergabe der Zeugnisse noch eine kleine Feier, bei dem unsere Kids den Rumänen in ihrer traditionellen Szeklertracht dabei zuschauen konnten, wie sie auf der Bühne kleine Sketche aufführten, sangen und tanzten. Uns fiel dabei besonders ein Gast ins Auge: eines der Roma-Kinder, das wir besucht hatten. Der Junge, der vielleicht elf oder zwölf Jahre alt ist, geht nicht mehr zur Schule. Er hat sie beendet, um auf seine kleineren Geschwister aufzupassen. Und trotzdem war er bei der Zeugnisübergabe anwesend. Er saß allein, blickte aber sehnsüchtig auf die Bühne, zu den Zeugnissen, den Aufführungen. Und Sandy, die den Jungen schon häufiger gesehen hat, weiß, dass er das bei jeder Veranstaltung von der Schule tut. Ganz allein, ausgeschlossen am Rand. Dort, wo sich die Roma meist befinden.