Die junge Frau hat Glück gehabt. Am Freitag hatte sie an die Tür geklopft, mit nichts als zwei Plastiktüten in der Hand und dem kleinen Kind auf dem Arm, vertrieben vom Vater des Kindes. Sie brauchte einen Platz zum Schlafen, einen Rückzugsort für sich und den kleinen Sohn, ein Jahr alt, zahnloses Lachen, hellbrauner Flaum auf dem Kopf. Familie oder Verwandte, die die 19-Jährige mit den dunklen Haaren, den schmalen Schultern und der ausgeblichenen Kleidung hätten aufnehmen können, gab es nicht, schließlich war sie auch früher schon eine Vertriebene gewesen. Seit dem zwölften Lebensjahr, seit ihre Mutter sie in einem Heim sitzen gelassen und sich aus dem Staub gemacht hatte. Diesmal hat sie Glück gehabt. Das kleine Eltern-Kind-Zimmer im Kloster der Mallersdorfer Schwestern in Szekelyudvarhely war nicht belegt gewesen. Sie durfte bleiben, vorerst.
Die hellen Augen von Schwester Michaela verdunkeln sich, als sie die Geschichte der jungen Frau erzählt, die jetzt in dem luftigen Innenhof des Ordenshauses ihrem Kind mit energischen Zügen die Schokolade vom Mund wischt. Neben ihr hampeln zwei blonde Mädchen auf einer Wippe, Geschwister, ein paar Meter weiter bauen drei Jungs in Bayern-München-Trikots der letzten Saison ein großes, neues Trampolin auf. Sie alle sind Waisen. Ihre Eltern haben sie verlassen, meist bei der Geburt, manchmal auch erst Jahre später. Wie die junge Mutter haben sie bei Schwester Michaela und den anderen Nonnen nicht nur Zuflucht gefunden, ein Bett, eine Dusche und regelmäßiges Essen, sondern auch Zuspruch, Respekt und menschliche Wärme.
„Wir können nicht immer helfen“, erklärt Schwester Michaela schulterzuckend und deutet auf die junge Mutter. Die Nonne, eine kleine rundliche Frau in grauer Schwesterntracht, die dunkelgrauen Haare unter der dunklen Haube gebändigt, die Furchen in dem weichen Gesicht noch nicht allzu tief, kennt viele, fast unzählige dieser Lebenswege.
Mütter, die beinahe selbst noch Kinder sind, die von Eltern oder Männern geschlagen, vertrieben und verlassen werden – und die später nicht selten dieselben Entscheidungen treffen und ihre eigenen Kinder im Stich lassen.
Dennoch sei es heute einfacher, Zufluchtsorte für die Verlassenen und Vertriebenen zu finden. „Es gibt mehr Initiativen, die sich um die Frauen und Kinder kümmern. Wir sind mittlerweile gut vernetzt. Können wir jemanden nicht unterbringen, können wir ihn vielleicht weitervermitteln.“ Nicht zu vergleichen mit der Lage 1991, als der eiserne Vorhang fiel und Michaela nach Rumänien kam.
Damals hätten jeden Tag Dutzende Kinder vor den Türen der Kirche gestanden und gebettelt, erzählt die Ordensschwester mit ruhiger Stimme. Roma. Es rollt leise, wenn Michaela Roma sagt. Noch immer macht sich der oberbayrische Dialekt ihrer Heimat Deggendorf bemerkbar, obwohl Michaela seit 24 Jahren im Szeklerland lebt, dem Landstrich Rumäniens, der von der ungarischen Minderheit des Landes bewohnt wird. Mit 42 hat sie das bayerische Deggendorf verlassen, um das Ordenshaus der Mallersdorfer Schwestern aufzubauen, einer Ordensgemeinschaft der Franziskanerinnen, nachdem das Ende des Kommunismus die Wiederbelebung der katholischen Kirche bedeutete, deren Aktivitäten zuvor durch den Staat stark eingeschränkt worden waren. 1864 ließen sich die Mallersdorfer Schwestern erstmals im rumänischen Hermannstadt nieder, mittlerweile ist der Orden an fünf Orten aktiv, betreibt Kindergärten, Altersheime, Schulen. In Szekelyudvarhely haben die Schwestern damals einen Kindergarten für Angehörige der Roma gegründet, um die Kinder von der Straße zu holen.
„Anfangs hat sich kaum etwas verändert“, erinnert sich die heute 66-Jährige, „alles war wie gelähmt“. Die Menschen hätten einander kaum mehr vertraut, Gleichheitszwang und Ceaușescu-Diktatur hatten ihre Spuren nicht nur auf den Straßen, sondern auch in den Köpfen des Landes hinterlassen. Erst in den letzten Jahren zeigten sich die Fortschritte. Neue Häuser würden entstehen, alte renoviert und restauriert, es gäbe mehr Geschäfte, sogar Touristen. „Es gibt Verbesserungen“, merkt Schwester Michaela an, „aber vieles ändert sich nur sehr langsam“. Noch immer gibt es Roma-Kinder, die betteln. Noch immer gibt es Kinder, die im Kindergarten erst einmal gefüttert, gewaschen und entlaust werden müssten. Einhundert sind es heute insgesamt, die in vier Gruppen betreut werden. Dazu kommen praktische Förderangebote und eine Schule für die, die dem Kindergartenalter entwachsen. Hier sollen die Kinder Selbstvertrauen entwickeln, Lernfreude und Neugierde, Werte, die ihnen zu Hause nicht vermittelt werden. „Viele Eltern sind Analphabeten, waren selbst noch nie in der Schule. Ihnen bedeutet der Schulbesuch der Kinder nichts.“
Immer wieder würden Kinder nicht erscheinen, weil die Eltern wenig Sinn in der Schulbildung sähen. „Wir sehen aber auch immer wieder Eltern, denen es sehr wichtig ist, dass ihre Kinder mehr lernen als sie selbst. Sie sollen lesen, schreiben und rechnen lernen – alles das, was sie nicht können.“
Waren es früher ausschließlich Roma-Kinder, die aufgepäppelt werden mussten, besuchen heute Kinder unterschiedlicher Gruppen die hellen, bunten Räume, in denen zwischen Mobilees und Plüschtieren gemalt, gebastelt oder gelernt wird. Die Mehrheit der Kinder kommt jedoch noch immer aus den sozial schwächsten Schichten. „Natürlich merken wir, dass viele Eltern ihre Kinder lieber in einen anderen Kindergarten schicken wollen“, gibt Schwester Michaela fast entschuldigend zu, „aber wir wollen niemanden zwingen, sein Kind hierher zu schicken“.
Im Flur stapeln sich die Babymilch-Pakete. Milupa, deutsche Aufschrift. Man spürt die Präsenz des deutschen Mutterhauses hier im tiefsten Rumänien. Viele Spenden, über die sich das Kloster finanziert, kommen aus Deutschland. An Weihnachten würden Schuhkartons voller Geschenke aus Bayern kommen. Auch die einheimischen Schwestern, meist Szekler, lernen Deutsch. Kooperation sei dennoch oberste Priorität, betont Schwester Michaela mehrmals, „Hilfsprojekte müssen immer vor Ort verwurzelt sein“. Sonst brächte auch das größte Engagement langfristig nichts.
Dass die Ordensschwester pragmatisch ist, zeigt auch ihre Begründung, nach Rumänien zu ziehen: „Es wurde eine Stelle frei, ich habe mich beworben und wurde genommen.“ Es fügte sich einfach, ähnlich wie ihre Entscheidung, dem Orden beizutreten, die sie schon im Kindesalter für sich getroffen hat, ganz unbewusst, wie sie heute sagt. Und dennoch hält sie nach der fast nüchternen Bilanz kurz inne.„Es ist ein großes Geschenk, dass ich hierher kommen konnte.“
Ein kleiner Junge wirft sich der Schwester an den Hals und zwängt seine schmalen Schultern unter ihren Arm. Lori ist dreizehn und lebt seit seinem ersten Lebensjahr bei den Schwestern. Sie mussten das einstige Frühchen mit der Flasche aufziehen. Seine Mutter lebte einige Zeit mit Lori im Kloster, aber sie hat neu geheiratet – und den Sohn bei den Nonnen gelassen. Der Junge mit den schräg stehenden dunklen Mandelaugen und dem schlackernden grauen Pokemon-Shirt ist ausgelassen, aufgedreht, anhänglich, flitzt umher und zeigt stolz den Inhalt seines Nachttisches. Fußballkarten, Spielzeugautos, ein Poster von Lionel Messi und ein paar Auto-Sticker, auf denen Turbo steht. Turbo, das ist auch Lori, während er um die Nonnen herumflitzt.
Lori hat bei den Mallersdorfer Schwestern ein Zuhause gefunden, ebenso zwei Schwestern, deren Mutter sie bei den Nonnen zurückgelassen hat. Die Mädchen seien so klug, schwärmt Schwester Michaela. Und sie haben ein Vorbild: Die älteste der dreien hat soeben die Schule beendet, und will an die Universität, studieren.